From Horst Appuhn's Die Paradiesgärtlein des Klosters Ebstorf
Der hochwüdigen Frau äbtissin Edelgard von
Arnswaldt gewidmet
Außer den bekannten Bildteppichen und Decken des Mittelalters, die
Marie Schuette vor vierzig Jahren publizierte, bewahren die Lüneburgischen Damenklöster noch viele Textilien, die es nicht
minder verdienen, kunstgeschtlich betrachtet zu warden. Besonders wichtige Stücke, u. a. ein großes Antependium aus Regensburger
Halbseidenbrokat, wurden 1965 in Kloster Ebstorf wiedergefunden, daneben merkwürdige Tücher, die man wegen ihres reichen Besatzes
mit Kunstblumen und Reliquien bisher als “Betkissen” des 15 oder 16 Jahrhunderts bezeichnete1, vermutlich
ohne etwas von ihrem ursprünglichen Zweck zu wissen. Ein zugehöriges Stück wurde um 1932 der Priorin der Abtei Frauenwörth
im Chiemsee geschenkt.2 Insgesamt bestand die Folge aus nicht weniger als vierundzwanzig Stücken! Durchweg waren
sie schwer beschädigt, kein einziges unversehrt. Die drei am besten erhaltenen wurden 1966 in ihrem derzeitigen Zustand konserviert
(Tafel 11). Aus den Fragmenten der übrigen zwanzig hat im Jahre 1966 Frau Helmine Fuhse, Braunschweig, zehn Stücke nach den
Erkenntnissen der vorliegenden Untersuchung wiederhergestellt, zu der sie selbst zahllose Beobachtungen beitrug (Tafel 7).3
Beschreibung
Die einzelnen Stücke bestehen aus einer flachen, rechteckigen Fahre
(52-55 cm lang und 32-47 cm breit) und einem an der Schmalseite aufgehefteten Wulst (entsprechend 32-45 cm lang und 9-12 cm
stark). Die Fahnen sind über einem goldenen Grund reichlich mit Kunstblumen und Reliquien besetzt.
Der Grundstoff der Kunstblumen ist Kupferdraht in unterschiedlichen
Stärken (Tafel 8). Er halt den gesamten Schmuck zusammen, denn jedes Blatt und jede Blüte bestehen daraus, jeder Holzzweig
ist damit verstärkt und erhebt sich auf gedrehten Kupferstielen über dem Grund. Die von Seide dicht umwickelten Blätter –auch
der Blüten – enthalten eine zusammengepreßte Drahtschlinge. Sie drückt je zwei Pergamentstückchen zusammen, die, nach
außen auseinandergefaltet und beschnitten, den Umriß jedes Blättchens ergeben. Die beiden Hälften des Blattes wurden einzeln
mit farbiger Seide umwickelt. Dadurch hat jedes Blättchen in der Mitte an Stelle der Rippe einen Schlitz. Deshalb können die
Hälften der Blätter auch unterschiedliche Farben tragen, so gar wie ein Wappen gevierteilt erscheinen. Andere rundliche Blätter
bestehen aus Schlingen spiraling gedrehten Drahtes, die man mit lockeren farbigen Seidenfäden frei bespannte. Hier wurde der
Draht grün gefärbt, auch wo er an Fruchtknoten sichtbar blieb. Lediglich die Stiele, auf denen die Blütenzweige über dem Grund
befestigt sind, wurden unverdeckt in der Farbe des Kupfers gelassen, das ursprünglich natürlich glänzte. Die dicken, nicht
gedrehten Seidenfäden haben die Farben weiß, hellgelb, dunkelgelb, orange, rosa, rot, purpur, hellgrün, türkis, blau, also
insgesamt zehn Töne, dazu kommen Silberfäden (an den Eicheln). In den Blättern findet man einzelne Korallen und zwischen den
Blättern kleine Flitter aus gepreßtem Silber in Form von Buchenblättchen, Buckeln, Dreipässen; dabei sind die Buchenblättchen
einseitig vergoldet.
Die Mehrzahl der Blüten ähnelt Lilien, Heckenrosen und Narzissen, aber
die gewählten Farben und die Blätter weichen von den Vorbildern ab. Daneben gibt es Rosen-knospen, Eichenblätter und Eicheln
sowie Erdbeeren. Es ist unmöglich, jede Pflanze zu benennen. So naturnah das Gewirr der Blumenzweige zunächst auch wirken
mag, man darf diese Blüten nicht als Imitation begreifen wollen. Dadurch unterscheiden sie sich von den Kunstblumen, die seit
dem 18 Jahrhundert als modische Erzeugnisse gefertigt werden. Die Blumen in Ebstorf steigern vielmehr das natürliche Vorbild
durch Vielfalt und Phantasie zu dem Idealbild einer Blume.
Die symmetrische Anordnung der Zweige verstärkt den Eindruck des Unwirklichen,
ohne Zweifel eine künstlerische Komposition, die an die Astwerkschleier spätgotischer Schnitzaltäre gemahnt (Tafel 10). Soweit
an den Fragmenten feststellbar, überkreuzen sich auf beiden Seiten der oberen Hälfte je zwei Zweige, von denen der innere,
kürzere nach außere, längere nach innen reicht, wo er den in der Mitte von der anderen Seite entgegenkommenden berührt. Dadurch
entsteht die Form eines Kielbogens. An den Seiten stützt sich dieser auf kurze, senkrecht stehende Zweige. Den Sockel bildet
das Wulstkissen.
In der so angedeuteten gotischen Arkade wird das Mittelfeld entweder
von auffrecht stehenden Zweigen oder von größeren Gegenständen ausgefüllt, von denen noch Reste zeugen, nämlich Kleinen Andachtsbildern
(zwei Holzbrettchen, heute ohne Bilder, auf einem Kissen übereinander angeordnet, Tafel11), Reliquiaren (z. B. Einer aus Lindenholz
geschnitzten Predella mit Reliquienfach, Fragment eines Miniatur-Altärchens) oder blauen Seidentüchlein.4 In dem
Blumenrahmen wirkten diese Dinge wie kleine Bilder. Bei solchen „Kissen“ hält sich die Farbigkeit der Blumen etwas
zurück, so daß diese wirklich als Rahmen dienen. Bei denjenigen, die kein solches Mittelstück hatten, wirkt der einheitliche
Blumenschmuck bunter.
In den Blumenschmuck verstreut finden sich
auf jeder Fahne viele Reliquien. Sie sind wie die Blumen auf ca. 6 cm hohen vergoldeten Kupferdrähten über dem Grund befestigt.
Die kleinen, in einfarbige und gemusterte Seidenstoffe5 vernähten Päckchen hat man wie üblich mit Pergamentstreifen
(cedulae) versehen, auf denen die Namen der Heiligen stehen. Noch lassen sich 145 Cedulae lesen. Sie nennen die folgenden
Heiligen (in Klammern steht die Zahl der Reliquien):
Agatha (3), Alexander (4), Andreas (1), Anna (1), Ansgar (2), Antonius (2), Barbara (I), Bartholomaus (1),
Benedikt (1), Bernward (2), Blasius (4), Christophorus (3), Christus (vom Grabe 2, vom Kreuze 3, vom Gefangnis 1, vom Stein
der Auferstehung 1, vom Stein der Hinimelfahrt 1), Cyriacus (3), Cordula (1), Damian (2), Dorothea (2), Ebstorfer Martyrer
(11), Elisabeth (2), Exuperius (2), Florian (1), Georg (3), Gereon (1), Hyppolitus (1), Jacobus d. K. (1), Apostel Jacobus
(2), Johannes (1), 11 000 Jungfrauen (7), 'Papst Kalixtns (1), Katharina (5), Ldmbertus (1), Laurentius (3), Lucas (1), Lucia(2),
Margaretha (I), Maria (Marienglas 1, vom Oft, wo sie geboren ist 1, von der Rute Aarons 1), Maria Magdalena (1), 10000 Martyrer (6), Apostel Matthaus (1), Mauritius
(6), Nikolaus (3), Oswald (1), Apostel Paulus (2), Apostel Philippus
(2), Reliquien der Heiligen (18), Sebastian (I), Servatius (1), Stephan us der Erzmartyrer (1), Apostel Thomas (3), Thomas
von Canterbury (1), Unsdtuldige Kinder (1), Ursula (3), Valerius (1), Vincentius (1), Virus (2).
Nach den Spuren (Drähte, Ösen, symmetrische Verteilung)
müssen ursprünglich 288 Reliquien auf den „Kissen" gewesen sein, also im Durchschnitt 12 auf jedem der 24 Stücke. In Wirklichkeit
verteilen sie sich jedoch anders:
3 Kissen mit 17 Reliquien = 51
2 Kissen mit 16 Reliquien = 32
5 Kissen mit 14 Reliquien = 70
4 Kissen mit 12 Reliquien = 48
3 Kissen mit 11 Reliquien = 33
2 Kissen mit 9 Reliquien = 18
3 Kissen mit 8 Reliquien = 24
2 Kissen mit 6 Reliquien = 12
288
Neben den Reliquien der Heiligen des Ortes (den
in Ebstorf begrabenen Märtyrern und St. Mauritius, dem das Kloster geweiht ist, u. a. bezeichnet als De sancto mauricio inclito duce) und der Landschaft (u. a. Alexandar, Bernward, Blasius, Elisabeth) sind die Reliquien
des Herrn und der Muttergottes sowie des Apostels Thomas die wichtigsten. Auf einer besonders breiten Fahne, die ehemals 14
Reliquien trug, befindet Sich die Reliquie des Apostels Thomas mit dem Titel eines rechten Zeugen der Auferstehung (De sancto thoma apostolo teste vere resurrexionis) zwischen der des Herrn (De
praetioso ligno domini) und derjenigen von den Ebstorfer Märtyrern (De sanctorum martyrum hic nobiscum quiescunt).
Ebenso wie die Blumen sind die Reliquien so weit
wie möglich symmetrisch angeordnet. Durchweg befinden sich dicht am Oberrand der Fahne drei, darunter in der nächsten Reihe
zwei auf Lücke stehend, wenn eine dritte Reihe vorhanden ist, wieder drei (Tafel 7). Meistens folgt dann jedoch eine andere
Komposition, die entweder durch zentrale Anordnung einige besonders wertvolle Reliquien hervorzuheben sucht oder den eingestreuten
Andachtsbildern den Mittelplatz freigibt (Tafel 11).
Der kostbare Schmuck der Blumen und Reliquien
erhebt sich ungefähr l0 cm hoch über einem golden strahlenden Grund. Er wird von dünnen vergoldeten Messingblechen im Format
12-15 X 17-42,5 cm gebildet, welche die Fahne bis zum Rand ganz und gar bedecken. Die Bleche sind so dünn, daß man sie mit
Fäden auf den Rupfen heften konnte, der aIs GrundmateriaI dient.
An der Schmalseite befindet sich der genannte
Wulst, gelegentlich in der Mitte auf der einen Seite verstärkt (Tafel 7). Der WuIst ist
nichts anderes als ein rundliches Paket
nicht gesponnenen Flachses, eingenäht zunächst in schwarz gefärbtes Leinen und bezogen mit grüner Seide. Auch diese Wülste wurden mit kleinen Kunstblumen
besetzt, doch vor allem bestickt
mit Reihen genau parallel stehender Blumenstengel im Spaltstich aus roter, gelber und weißer Seide mit jeweils andersfarbiger Blüte.
Diese Blumen stehen säuberlich
aufgereiht nebeneinander, vier bis zehn Gruppen von jeweiIs elf gleichfarbigen Stengeln. Da in jeder Gruppe die Blüten ein flaches
Dreieck bilden, ergibt sich aus der an sich so schlichten Reihung ein lustiges, die Oberseite der Wülste ausfüllendes Ornament. Bei einigen besonders breiten
Stücken und sieben, deren Mitte auslädt, stehen zwei Blumenreihen übereinander.
Zustand
Die Wülste haben besonders stark gelitten (Tafel
10 u. 11), nicht etwa durch irgendeine Beanspruchung, allein durch das schwarz gefärbte Leinenfutter! Der Raseneisenstein,
den man zum Färben verwandte, enthält Eisenoxyd. Dieses zerstörte das Leinen ganz und die darüber gedeckte Seide zu einem
großen Teil und damit auch die darauf gestickten Blumenstengel.7
Der Schmuck der Blumen, Reliquien und Andachtsbilder
wurde im Lauf der Jahrhunderte dezimiert. Zuletzt scheint das nach Frauenchiemsee verschenkte „Kissen" durch Blumen aufgefüllt worden zu sein, die man den
übrigen entnahm. Deshalb blieb 1966 nichts anderes übrig, als zwanzig Fragmente zu zehn "neuen" Stücken zusammenzustellen, wollte man den ursprünglichen Eindruck wiedergewinnen.
Am schwersten wog der
Verlust der vergoldeten Messingbleche des Grundes, von denen nur noch gerissene und verknitterte Reste vorhanden waren. Bei den Rekonstruktionen
wurden sie durch goldene Aluminiumfolie ersetzt, die der Wirkung des ursprünglichen Materials sehr nahekommt.
Am besten erhalten hat sich die Farbe der Seide
an den Kunstblumen. Das verdient hervorgehoben zu werden, weil die Blumen der vergleichbaren Schreine im
Lauf der Jahrhunderte verblaßten.
Vergleiche
Es gibt die gleichen Kunstblumen, zwar nicht in
derselben Montierung, aber in verglasten Schreinen, zunächst im Nachbarkloster Walsrode. Das bereits um 985 gegründete Benediktiner-Nonnenkloster
Walsrode besteht wie Ebstorf seit 1528 als evangelisches Damenstift. Im Nonnenchor
hängt an dessen Südwand ein verglaster Schrein 8,
in dem
die geschnitzten; Holzfiguren des auferstandenen Herrn und des Ungläubigen Thomas unten und seitlich von Kunstblumen eingefaßt werden, während über
ihnen, fast
die gesamte
obere Hälfte des Schreins ausfüllend, 27 Reliquien9
in vergoldeten Kupferkästchen Sich
schachbrettförmig mit sechsblättrigen Sternblüten abwechseln (Tafel 9). Es handelt sich also um dieselbe Kombination von Reliquien, Kunstblumen und
Andachtsbild
wie in
Ebstorf, nur in einer anderen Form. Die Technik der Rosen, Sternblumen und Eicheln ist dieselbe (Tafel 14), zusätzlich finden sich Birnen, Maiblumen
und Akelei
- als Hinweis
auf den auferstandenen Herrn, dem der Schrein gewidmet ist.10 Dagegen sind Schmuckbleche anderer Formen eingestreut und die Reliquien anders "verpackt". Die Entstehungszeit muß zwischen der katholischen Reform
von 1482 und der lutherischen Reformation
von 1528 liegen, wohl gegen 1490. Die Figuren schuf wahrscheinlich Hermann Droste, der von 1485 bis 1513 in Lüneburg als Bildhauer nachweisbar
ist.11
Weitere Schreine mit Figuren, Goldflittern, Kunstblumen
und Reliquien kennt man im heutigen Belgien.12 .Im ehemaligen Beginenhof,
dem heutigen Gasthuis onse Lieve Vrouw; in Mecheln stehen
sogar sieben größere und kleinere Schreine beieinander (Tafel 2), weitere im Beginenhof zu Herentals (Tafel 13) 13 sowie u. a. in den Kirchen Baelen-Neet, Saint Leonard und Gheel und auch am benachbarten Niederrhein in Kalkar.14 Die Kunstblumen sind in derselben Weise wie in
Ebstorf und Walsrode gearbeitet,
wenn auch durchweg verblaßt, weil sie - zwar hinter Glas gegen Staub geschützt ~ doch meistens dem Licht ausgesetzt bleiben (Tafel 15,1). Die
Blumenarten
wechselnnatürlich.
Am Sockel, der wie in Ebstorf aus einem mit grünem Stoff bezogenen Wulst gebildet wird, wachsen sie frei empor wie in dem Walsroder Schrein.
Auf der Rückwand
sind sie dagegen ornamental angeordnet. Am meisten fällt die Vielzahl kleiner Skulpturen und Bildchen auf, die außer den Reliquien in die
Blumen eingebettet sind
(Tafel 16) - also jene Dinge, die in Ebstorf heute fehlen, nach Ausweis der Reste und der Kupferstiele jedoch einstmals vorhanden waren. Mit Hilfe
dieser kleinen Figuren werden
die Schreine in Belgien in die Zeit urn 1500 und ins 16. Jahrhundert datiert.
Herkunft
Den Fragmenten in Ebstorf und dem Schrein in Walsrode
steht also in Belgien und am Niederrhein eine große Zahl Blumenschreine gegenüber. Sie enthalten Kunstblumen genau derselben
Fertigung. Auch sie machen durchaus nicht den Eindruck einer Liebhaberarbeit, weil die Blumen vollkommen einheitlich wirken.
Mag die Technik als volkstümliche Handarbeit auch an vielen Orten und zu anderen Zeiten bekannt gewesen sein, diese Blumenschreine
sehen aus wie Erzeugnisse industrieller Produktion. Das zwingt zu fragen, ob die Kunstblumen in einer bestimmten Werkstatt
entstanden sind.
Den ersten Hinweis gibt die Verbreitung: Allein
sieben Schreine stehen in Mecheln! Sodann: Mehrere Figuren, die sich in den in Belgien und in Kalkar vorhandenen Schreinen befinden, werden eindeutig als Mechelner
Arbeit um 1500 erkannt, auch wenn sie nicht mit der Beschaumerke von Mecheln versehen wurden. Schließlich ist zu bedenken, daß es in Mecheln
um 1500 mehrere Gewerke gab, die für den Export gearbeitet haben 15, nämlich außer den Bildhauern die Geschütz- und Glockengießer, bald danach auch die Lederarbeiter und in der Mitte
des 16. Jahrhunderts die cleynstekers, die die beliebten Alabaster-Altäre herstellten, die überall
verbreitet waren – auch in Ebstorf und Lüneburg.16
Die Kunstindustrie hatte in Mecheln offenbar Tradition und wurde durch den Hof der Margarete von Österreich als Statthalterin der Niederlande
gewiß noch gefördert (1507-30).
Die sieben Blumenschreine in Mecheln stehen in
dem ehemaligen Beginenhof. Seit dem 17. Jahrhundert klöppelten dort die Beginen die so begehrten Spitzen.17 Nichts spricht dagegen, daß ihre Vorgängerinnen
um 1500 die Kunstblumen herstellten und durch deren Verkauf ihren Lebensunterhalt verdienten, wie es z. B. aus Italien überliefert
wird.18
Bedeutung
Die Kunstblumen-Schreine heißen in Belgien Besloten
Hofjes, was wir neutral mit verschlossene Höfe bzw. Gärten übersetzen. Gemeint ist jedoch der hortus conclusus, das Symbol für die Jungfräulichkeit der Muttergottes 19, das auch in einem Papierrelief in der Mitte des Mechelner Schreins
dargestellt wird (Tafel 16). In demselben Schrein deutet
unten ein mit grünem Stoff bezogener Wulst den Garten an (Tafel 12),
in dem wie in Ebstorf kleine Blumen wachsen. Doch in der Mitte des Wulstes verschließt ihn ein auffallendes goldenes Gittertor.
Was das Rundbild in vielen Einzelheiten erklärt, wird hier groß herausgehoben, das verschlossene Tor, nach dem die Schreine ihren Namen
erhielten: Besloten Hofjes.
Diese Gleichsetzung der Besloten Hofjes mit dem hortus conclusus richtete sich an die Beginen als eine moralische Forderung, über die Jungfräulichkeit
zu wachen. Daneben steht
die Allegorie des Besloten Hofjes als Bild des Beginenhofes. Eine Inschrift von 1675 am Beginenhof in Diest
nannte diesen nämlich insgesamt einen Besloten Hof.20 Da in dem Mechelner Schrein (Tafel 12) über dem verschlossenen Tor des
Gartens die Muttergottes mit den Heiligen erscheint, will das allegorische Bild weiter sagen, daß die Heiligen wie in dem
hortus conclusus auch in dem Beginenhof zu Hause sind.
Das Motiv des mit einer Tür verschlossenen Gartens
kennt man auch aus anderen Zusammenhängen. In Alt-Holland bildete es als hollandse tuin einen Teil des Löwen-wappens, d. H. Der Löwe erhebt sich
,in einem solchen Zaun.21 In Norddeutschland gibt es die berühmten Hirschschalen des Lüneburger Ratssilbers. Auf ihnen ruht ein Hirsch auf grüner, von einem solchen
Zaun umhegten Blumenwiese. Da das bekannte Volksbuch, der Physiologus, den Hirsch als eine Allegorie
Christi erklärt, müssen Berg und Zaun das Paradies bedeuten.22 Das heißt, der Zaun ist die verniedlichte Form der Mauern und Tore des Himmlischen Jerusalems,
mit dem man einst das zukünftige Paradies darstellte - etwa an den romanischen Radleuchtern in Hildesheim und Aachen. Der Gartenzaun entspricht dem liebenswürdigeren Geschmack
der Spätgotik. Man sprach vom Paradiesgärtlein (z. B. Gemälde im Städel, Frankfurt). Eines der beliebten Gebetbücher hieß Hortulus
animae = Seelengärtlein. Mariengebete nannte man Rosengarten oder Rosengertlein. Der Garten war in vielen Allegorien ein bestimmter Begriff.
Solch einen Garten ergeben die Ebstorfer Blumen-"kissen".
Durch den goldenen Grund wird er zu einer goldenen Blumenwiese oder Himmelswiese überhöht, also das, was man ein Paradiesgärtlein hieß.
Die mystische Vorstellung einer himmlischen Blumenwiese
erwuchs aus der Braut-mystik, die sich wie der hortus conclusus aus Solomos Hohem Lied und seinen Gartenblidern
ableitet auf dem Wege über das Gleichnis Christi von den klugen und
törichten Jungfrauen
(Matth. 25) und über die Schau des Himmlischen Jerusalems (Apok. 21). Im Bilde waren diese Motive überall verbreitet, so daß solch eine Vorstellung
des Himmels
durchaus
verstanden wurde.23 Die mystische Andacht bereicherte das Bild durch die Blume, obgleich diese in der Bibel vorwiegend als ein
Gleichnis für die Vergänglichkeit des Menschen gilt,24 weil die volkstümliche Predigt und die allgemein verbreiteten Heiligenlegenden seit dem 13. Jahrhundert die
Natur zu preisen begannen, z. B. die Legende des hI. Franziskus, der den Vögeln predigte und seine Gedichte "Die Blümlein"
nannte. In der Schau einer Nonne wurde der Himmel zu "einer wonniglich schönen Wiese. . . und es standen da so zierliche Blumen und glänzten aIle
zusammen recht wie reines Gold".25 In den niederdeutschen Reimen. des Wienhäuser Liederbuches heißt es von der Himmlischen Stadt
(im Anschluß an die Beschreibung entsprechend Apok. 21:26
"Jerusalem, de söte stat,
dar we schuln wanen inne,
se is von rosen lichterfar,
geziret wol darbinnen.
....
De straten, de darinne sind,
begoten wol mit golde . . ."
Diese Beispiele aus der Nonnen-Literatur wären
ohne die Marienlyrik des hohen Mittelalters undenkbar, die alle möglichen Blumen, ja das ganze Paradiesgärtlein auf Maria
bezieht.27 Rosenhag und Paradiesgärtlein sind als die spätmittelalterlichen Versionen des hortus conclusus typische Sinnbilder Mariens.28
In einem erbaulichen Schriftstück des vierzehnten
Jahrhunderts werden einzelne Blumen auch als Tugenden beschrieben, die Blumenwiese als ein allegorisches Bild des Konvents:29
"Die samnung [der geistliche Convent] sol ain schoeniu wies sin.
uff der mänger hande bloumen wachsen. und schinnen sol. § Da sol sin lyli gantzer kiunschkait. § Da sol sin ain ros brinnender minne.
und vester gedultkait. § Da sol sin ain viol rehter demuetkait. § Da sol sin ain zitlos zühtiger wandlung und erberkait. §
Da sol sin
klebluomen guoter beschaidenhait. Aller dirr bluomen schin. daz sint alle tugend. won in gaischlichem lebenne ensol enkainer
tugend gebresten."
In einem Lehrbuch des 15. Jahrhunderts aus einem
niedersächsischen Nonnenkloster, gedadIt fur die neu aufgenommenen Jungfrauen, malt der Text mitten ineiner Schilderung der
Feier, die bei der endgültigen Schleiernahme der Novizinnen, der coronatio, stattfindet, mystisch verzückt den geistliken gardeken aus, wo Jesus seine geistlike brud erwartet - also das alte Bild
aus dem Hohen Lied.30 Der Versuch einer Klosterchronik in Ebstorf schildert die Bedeutung dieses Festes und der dabei überreichten
ZeidIen, nämlich Ring, Schleier und Krone.31 VieIleicht waren die Paradiesgärtlein für dieses hervorragende Fest im Leben
der Nonne bestimmt, für ihre Krönung als Braut Christi?
Geschichte
Über die Benützung der Paradiesgärtlein in Ebstorf
wissen wir leider wenig. Als "Betkissen", wie man sie vor 100 Jahren nannte, erscheinen sie wenig brauchbar. Die vielen in
ihnen enthaltenen Reliquien und der empfindliche Blumenschmuck lassen an eine Verwendung in verschlossenen Schreinen hinter Glas denken, wie
bei den anderen Blumenschreinen in Mecheln, Kalkar und Walsrode. Freilich füllen die 24 Paradiesgärtlein nebeneinandergereiht
eine ganze Wand!
Die genannte Ebstorfer Klosterchronik aus dem
Jahre 1487
scheint
so etwas anzudeuten,
wenn es von Propst Mathias von dem Knesebeck heißt: "Die Reliquienschreine ließ er durch Bretter vom Chore abschließen. Sie
sind wie eine Wand kunstvoll hergerichtet und mit einem zierlichen Gitter mit Krönlein [wohl Baldachine] von durchbrochener Arbeit darüber geschmückt, so
daß man das ganze für einen Wandteppich halten kann... in den Behältern werden Heiligenreliquien aufbewahrt." Daß die
Paradiesgärtlein einst auf eine Wand geschlagen worden sind, beweisen
Löcher von rostigen
Nägeln, die man an jedem Stück findet.
Die Wand gehörte zu der Kapelle, die der Propst
1474 bauen ließ, "damit die Novizinnen vor der Klostergemeinde zum Noviziat und zur Profeß aufgenommen werden, was mit Gottes
Gnade oft geschehen ist. Ebenso geschieht dort die Weihe der Bräute Christi, aber die ist bis jetzt 1487 nur einmal vorgenommen worden.
Sie war
über sieben
Jahre aufgeschoben worden, bis endlich, als 11 Jungfrauen beisammen waren,
dieselben gekrönt wurden am Feste Allerheiligen."
Da dieser Bericht aus dem Jahre 1487 stammt, müssen
die Paradiesgärtlein zwischen 1474 und 1487 beschafft worden sein. Das war vor der lutherischen Reformation (im Jahre 1528)
die letzte Blütezeit des katholischen Klosters. Sie begann, als nach der Reform von 1470 die Priorin Mette van Niendorf (aus Hadmersleben,
Diözese Halberstadt, gest. 1495) das Klosterleben im Sinne der Bursfelder Reformbewegung neu ordnete und viele Kultgegenstände herstellen ließ. Stickereien
werden zwar nicht ausdrücklich erwähnt,
aber im Nonnenkloster galten sie wohl als selbstverständlich.32
Mag es im ersten Augenblick auch überraschen,
daß ausgerechnet das reformierte, auf die strengen Regeln erneut verpflichtete Kloster einen derart aufwendigen Ornat erhielt, so bieten
die Nachbarklöster hierfür genügend Parallelen: In Wienhausen entstanden die besonders großen Banklaken, der Anna- und der Elisabeth-Teppich, um
1480, nach der Reform von
1468; in Lüne die gestickten und gewirkten Banklaken sowie die großen Teppiche aIle nach der Reform von 1481; in Isenhagen die Antependien für drei Altäre und ein Behang für den
Ehrensitz der Äbtissin um 1490, nach der Reform von 1488.33 Die Paradiesgärtlein waren also das, was der Konvent in Ebstorf sich nach der Reform geleistet hat.
Soweit die Spuren das noch erkennen lassen, gab
es auf den Ebstorfer Gärtlein keine großen Figuren wie in den Schreinen von Mecheln, Kalkar und Walsrode. Die Reihung von 24 Stücken
nebeneinander mochte es ausschließen, daß man ebenso viele große Figuren in die Gärtlein setzte. Doch auch die Idee war eine andere. Es waren
zunächst
Reliquienschreine. Zwischen den Blüten befanden sich nicht weniger als 288 Reliquien, weit mehr als
in den Besloten Hofjes. Die vergoldeten Stiele, auf denen die Reliquien befestigt
sind, die kostbaren, z. T. auch sonst in Ebstorf gebrauchten Stoffe, das Hervorheben der Heiligen des orts - das alles zeigt, daß die Reliquien
in Ebstorf hergerichtet und
den Blumen eingefügt worden sind. Zudem hat man in Belgien die Reliquien der Besloten Hofjes teilweise mit Zetteln
in der Landessprache versehen, in Ebstorf und Walsrode ausschließlich in Latein. Vor allem werden die Ebstorfer Paradiesgärtlein durch den goldenen
Grund hervorgehoben, der den Besloten Hofjes fehlt. Dieses papierdünne, vergoldete Messingblech,
das man auf den Rupfen nähte, wirkt heute wie ein Kuriosum. Wahrscheinlich gab es ähnliche Goldschmiedearbeiten aus unedlem Metall weitaus häufiger als
uns bewußt ist. Aus Lüneburg kenne ich die vergoldeten Zinnreliefs des Buchkastens von 133134, eine Monstranz der ersten
Hälfte des 15. Jahrhunderts aus vergoldetem Kupfer (ehemals im St. Nikolaihof in Bardowick) und das Schmuckblech einer hI. Katharina aus der
Zeit um 1500 aus papierdünnern versilbertem Messingblech35, alle drei Stücke im Museum für das Fürstentum Lüneburg. In Ebstorf
selbst wurde eine Ziernadel mit zwei Granatäpfeln und einem gewellten Blatt aus vergoldetem Kupfer gefunden (8,2 cm lang, vermutlich um 1500, Tafel 15,2).
Natürlich wollten diese Arbeiten aus
unedlen Metallen ebensoviel bedeuten wie solche aus Gold und Silber. Sie sind billiger Ersatz dafür, wenn auch handwerklich und künstlerisch
nicht weniger vollendet.
Ganz besonders deutlich wird der Unterschied zwischen
industriell gefertigten Kunstblumen und einheimischer Klosterstickerei an den Wülsten (Tafel 7). Darauf sind ja kleine Kunstblumen
befestigt und dicht darunter Reihen von Blumenstengeln gestickt (auf dem reparierten Gärtlein getreu nachgeahmt). Die gestickten Blumenstengel
ähneln denjenigen
an der Bordüre der gleichzeitigen Banklaken in Koster Lüne.36 Darum darf man sich diese Stickerei in Ebstorf entstanden
denken.
So stelle ich mir vor, daß die gesamte Montage
im Kloster Ebstorf um 1480 ausgeführt ist. Nur die Kunstblumen wurden aus Mecheln importiert. Sie sind ein frühes Beispiel
der Beginen-Arbeit und zugleich der exportierenden Mechelner Kunstindustrie, also einer Klosterkunst, die nicht bloß für den
Eigenbedarf arbeitete. Das ist an sich nicht neu, doch es wird nur gar zu gern vergessen: Auch in Wienhausen wurden Handarbeiten
der Schwestern
verkauft und Kleine Andachtsbilder vervielfältigt.37 Die Paradiesgärtlein in Ebstorf zeigen die belgischen Betloten Hofjes also in einem Licht, das diesen vielleicht zu einer neuen Wertung verhilft. Aber es sei auch das Besondere
der Paradiesgärtlein
betont, daß sie etwas anderes bedeuten als die Besloten Hofjes und daß die goldene
Blumenwiese der Gärtlein so nicht zum zweiten Mal gefunden wird. Sie waren wohl schon zu ihrer Zeit etwas so einzigartiges,
daß der chronikalische Bericht von 1487 sie mit Recht als Reliquienschreine, die wie ein Wandteppich aussehen, hervorhob.