PFLANZEN AUF TAFELBILDERN
DER ERSTEN HALFTE DES 15.JAHRHUNDERTS IN DEUTSCHLAND
Tritt die Pflanzenwelt vor der Jahrhundertwende in einem sehr zarten Streumuster
in der deutschen Tafelmalerei hervor, so blüht sie in der Zeit des weichen Stils mit einem Schlage auf. Die Malerei des frühen
15. Jahrhunderts in Deutschland beginnt mit einer bezaubernden kleinen Tafel, bei der man geradezu von einem botanischen Wunder
sprechen möchte. Es ist das Paradiesgärtlein eines oberrheinischen Meisters um 1410 im Staedel zu Frankfurt/M.
Als wäre die Welt erst jetzt auf einmal aufgeblüht und alles, was in der Kathedralenkunst
des hohen Mittelalters schon an Pflanzenzier dagewesen war, vergessen und von neuem entdeckt, so wachsen hier nebeneinander
dicht an dicht die zierlichen Blumen verschiedener Blühzeiten. In einem eigens durch einen Plankenzaun abgetrennten Beet sieht
man Vexiernelke (Lychnis Coronaria L.), Goldlack (Cheiranthus Cheiri L.), Levkoje (Matthiola annua Sweet), Schwertlilie (Iris
germanica L.), Stockrose (Althaea rosea Cavanilles). Tiefer herab, in der Nähe der drei männlichen Heiligen, bedeckt sich
der Boden mit weißen Lilien (Lilium candidum L.), Schlüsselblumen (Primula officinalis Jacquin), Akelei (Aquilegia), Immergrün
(Vinca minor L.), Veilchen (Viola odorata L.) und Erdbeeren (Fragaria vesca L.), unterhalb des Gewandsaumes Maria aber neben
Veilchen und Schlüsselblumen mit schönen Märzbechern (Leucoium vernum L.). Unten am Bildrande wächst sin
prächtiger Pfingstrosenbusch (Paeonia officinalis L.), und Maiglöckchen (Convallaria majalis L.) steigen schlank aus weichen,
großen Blättern. Längs der Mauer blüht ein Rosenstrauch, weiter oben säumen Ehrenpreis (Veronica Chamaedrys L.) und die aus
dem karolingischen Hortulus des Walahfrid Strabo bekannte Salbei (Salvia)29
den Rasen. Von den schon in dem Arzneikräutergarten des Klosterplanes von St. Gallen um 820/30 eingetragenen uralten Heilpflanzen
begegnen nun hier wieder, aber in lebendiger Gestalt, Lilie, Rose, Schwertlilie, Salbei. Ein Kirschbaum trägt reiche Früchte,
die in den geflochtenen Korb hinein von einer jungen Heiligen in weißem Gewande und rotem Mantel (Dorothea) gepflückt werden;
ein früchteloser Baum zur Rechten bildet ein Dach über drei männlichen Heiligen und hat Anlaß zu tiefsinnigen Deutungen gegeben
30; der kleine Baumstumpf weiter unten zu Füßen St. Michaels treibt zwei junge Reiser.
Von botanischer Seite ist man verschiedentlich an diese miniaturhaft feine, kleine
Tafel mit den vielen Kräutern herangegangen 31. "So sah vielleicht der Garten eines reichen Bürgers in Köln am
Anfang des 15. Jahrhunderts aus . . .", schreibt Fischer 32, und an anderer Stelle verweist er auf die Lustgartenbeschreibung
des Albertus Magnus aus dem 13. Jahrhundert, für dessen Gartenplan das Paradiesgärtlein eines oberrheinischen Meisters eine
Illustration sein könnte 33. Albertus schildert diese viridantia oder
viridaria folgendermaßen:
Man muß also einen Platz, der für einen
Lustgarten eingerichtet werden soll, zuerst von alten Wurzeln gut reinigen, was kaum geschehen kann, wenn man nicht die Wurzeln
ausgräbt, den Platz aufs beste ebnet und allenthalben kräftig mit kochendem Wasser übergießt, damit die Reste der Wurzeln
und Samen, die im Boden verborgen sind, verbrannt werden und nirgendswo keimen können. Alsdann muß mit mageren Rasenstücken
eines feinen Grases der ganze Platz belegt werden, und dieselben müssen mit breiten, hölzernen Hämmern fest eingedrückt und
die Gräser mit den Füßen in den Boden eingestampft werden, bis sie kaum mehr zu sehen sind: dann brechen sie allmählich haarfein
hervor und bedecken die Oberfläche nach Art eines grünen Tuches. Man muß den Rasen in solchen
Ausmaßen anlegen, daß hinter dem Rasen im quadratischen Ausschnitt
aIle Arten aromatischer Kräuter, wie Raute, Salbei, Basilicum gepflanzt werden können und desgleichen aIle Arten von Blumen,
wie Veilchen, Akelei, Lilie, Rose, Schwertlilie und ähnliche. Zwischen diesen Kräuterbeeten und dem (erstgenannten) Rasenstück
soll am Ende desselben ein erhöhtes Rasenstück angelegt werden voll lieblicher Blumen und ungefähr in der Mitte zum Sitzen
geeignet, wo sich die Sinne erholen und Menschen sitzen können, um sich ergötzlich auszuruhen.
Auf dem Rasen sind gegen die Sonnenseite
hin Bäume zu pflanzen oder Weinreben hochzuziehen, durch deren Laub der Rasen gewissermaßen geschützt ist und ergötzlichen
und erfrischenden Schatten empfängt. . . Hinter dem Rasen aber herrsche eine Vielzahl von Medizinal- und Küchenkräutern (aromaticae!),
welche nicht allein durch ihren Geruch ergötzen, sondern auch durch die Mannigfaltigkeit der Blüten das Auge erfreuen und
durch ihre Vielgestaltigkeit den Blick des Beschauers auf sich lenken . . .
In der Mitte des Rasens aber sei kein
Baum, sondern lieber glatte Fläche, so daß man sich an gesunder und freier Luft erfreuen kann. . .
Wenn es aber möglich ist, soll eine sehr reine, in
Stein gefaßte Quelle in die Mitte geleitet werden, weil deren Reinheit viel Vergnügen macht. Nach Norden und nach Osten sei
der Lustgarten offen wegen der Gesundheit und Reinheit der hier einströmenden Winde. Nach der entgegengesetzten Windrichtung
aber, d. h. nach Süden und nach Westen, sei er geschlossen wegen der Stürmischkeit, Unreinheit und schwächenden Wirkung dieser Winde...
(Ubersetzung aus Buch 7, Kap. 14 des 1. Traktates, s. Fischer I, S. 171 ff.)
Auch in dem Paradiesgärtlein des oberrheinischen Meisters sieht man nirgends Wege,
die Zierblumen entsprießen dem Rasen unmittelbar, mit Ausnahme der von einem Plankenzaun eingefaßten Heilpflanzen, der Rasen
ist etwas erhöht und bietet Gelegenheit zum Sitzen, die in Stein eingefaßte Quelle ist vorhanden, desgleichen ein Baum links
längs der Mauer, die das Terrain
nach zwei Seiten abschließt.
Dieser herrliche, bunte Garten ist das friedliche Reich der Himmelskönigin Maria,
die holdselig in ihrem Buche blättert, während das Kind ihr zu Füßen auf einem Psalterium spielt und die Heiligen - neben Dorothea (?) und Cäcilie sind es St. Georg, eine junge Heilige mit goldener Schöpfkelle
und der Jüngling in vornehmer Tracht unter dem Baum - sich im Gespräch ergehen oder bei gärtnerischen Arbeiten beschäftigt
sind. Der ernste Klang, den der Todesengel und Seelenwäger St. Michael in dieses zauberhafte Bildchen der Kunst des weichen
Stils hineinträgt,
in dem die höfische Kultur eines vergangenen ritterlichen Zeitalters sich mit der gefühlsstarken Mystik einer
neuen Epoche verbindet, erstirbt doch vor dem jubelnden Farbakkord seiner azurblauen und goldenen Flügel, seines zierlich
goldenen Kopfschmuckes und seines tiefblauen Mantels. Rot, Blau, Weiß und Gold zusammen mit dem Grün des Rasens, das sind
die beherrschenden Farben, und es ist längst erkannt, daß das Abbild dieses irdischen Gartens hier noch tiefer zu verstehen
ist als Sinnbild und Lobpreis der Schöpfung, insbesondere der Gottesmutter Maria 34, ja, daß in Wahrheit das Paradies
gemeint ist. Ein unlängst veröffentlichter Aufsatz von Elisabeth Wolffhardt: "Beiträge zur Pflanzensymbolik"34a
weist ganz in diese Richtung.