Die barocke
Litanei der Reliquienaufschriften dieser Plenarien hört sich fast wörtlich an wie das Inventar vom Reliquienschatz Kaiser
Karls IV. Aber die Tradition und
Kontinuität der so menschlichen Frömmigkeit zu Heiltum und Bild reicht über die Epochen hinweg bis zu jenem berührenden Kästchen
aus Jerusalem mit in Paste eingelassenen
Erinnerungsstückchen von Stätten im Heiligen Land, das aus dem 6. Jahrhundert und aus dem Schatz von Sancta Sanctorum stammt
(Ornamenta 3, S. 80 f.) (Abb. 26). Serienweise für den Pilgerbedarf gefertigt, wurden solche Kästchen mit Erden, Steinen und
Hölzern gefüllt, ähnlich wie die heilbringenden Flüssigkeiten, Wasser aus dem Jordan oder öl von den Lampen am Heiligen Grab,
in Ampullen Aufbewahrung fanden. Vom Grab, vom Kreuz, vom Gefängnis, vom Stein der Auferstehung, vom Stein der Himmelfahrt,
vom Ort, wo Maria geboren ist; Stückchen davon finden sich auch gemischt mit Knochensplittern der Heiligen in der Serie von
ehedem 24 Paradiesgärtlein des Klosters Ebstorf in der Lüneburger Heide (H. Appuhn 1968/69, S. 27 ff.) (Abb. 28), deren 288
Reliquien, in kleinen, einfarbigen und gemusterten Seidenstoffpäckchen vernäht, einem suggerieren könnten, Katharina Emmerich
hätte diese oder ähnliche gesehen. Die Päckchen sind mit Cedulae versehen und auf die Kissen auf goldenem Untergrund aufgesteckt
zwischen den wunderbarsten Kunstblumen, die uns ganz ähnlich im Schreinchen von Walsrode (Abb. 29), in den 'Besloten hofjes'
von St. Nikolai in Kalkar (Abb. 30), in der Predella des Xantener Antoniusaltars, in den großen Reliquienkästen aus Kloster Bentlage (Abb. 33, 34) begegnen, vor allem
auch in flämischen Beginenhöfen und Kirchen, in Mecheln hauptsächlich und anderwärts. Wie die Millefiori-Teppiche im Xantener
Dom, die über dem Chorgestühl und unter den auf den Chorschranken befindlichen Reliquienschränken angebracht sind und deren
Blumenthematik die Gefilde der Seligen, das Paradies, in dem die Heiligen wohnen, visualisieren wollen (Abb. 60), liegt auch dem auf goldenem Grund aufgesteckten
bunten Blumenschmuck der Reliquien in Ebstorf und anderwärts dieselbe Vorstellung zugrunde. Vergils 'heitere Fluren und grünende
Auen' im sechsten Gesang der Aeneis
("kamen sie zu den Gefilden der Wonne und lieblichen Auen,/Wo die Sitze der Frommen und glückbeseligte Haine./ Reicher nun
kleidet der äther mit purpurnem Licht die Gefilde/Rings, wo sie eigene Sonne und eigene Sterne erblicken ... Weiter weilen
hier jene, die für ihr Vaterland kämpfend/Bluteten, Priester auch, die rein im Leben gewandelt .../ Und die sich Nachruhm
sonst im Herzen der Menschen gesichert:/ Alle sie tragen die Schläfen mit schneeweißen Binden umwunden.") erscheinen wiederverwendet
in der Commendatio Mortuorum des römischen Rituale, wo es heißt: "Constituat te Christus inter Paradisi sui simper amoena
virentia." Aus solcher Vorstellung vom Paradies der Heiligen, in das man selbst einstens durch deren Fürbitte zu gelangen hofft, schmückten " die Klosterschwestern
in Bersenbrück aus frommer Liebe die Reliquien für unseren Hochaltar", wie im Chronicon Bentlagense zum Jahr 1499 berichtet
wird (Abb. 33, 34), und bekleideten fromme Stifter die Heiltum tragenden und umschließenden Wände mit den schönsten Blumenteppichen (Abb.42). Solcher spätgotischer Reliquien-
Köstlichkeiten wie den in Mecheln, Ebstorf, Walsrode, Rheine, Kalkar und anderwärts noch erhaltenen muß es viele gegeben haben,
hat doch beispielsweise das Hallesche Heiltum eine ganze Reihe ähnlicher Andachtsaltärchen besessen, so z. B. ein 'Paradiesgärtlein
mit 28 Reliquienpartikeln' (Abb. 31). War diese Schmuckarbeit vorzugsweise kontemplative Beschäftigung von Klosterfrauen, ein Privileg bedeutete das nicht, S. Beissel
(1884) beispielsweise weiß zu berichten:
"Hatten ihm die Männer geholfen, so sollten auch Frauen und Mädchen etwas tun. 1471 und 1472 lieferte er ihnen große
Kasten, Seidenfäden, Draht und Goldblätter (laengolt folie), damit sie die Reliquien der Heiligen in diese Kasten befestigten
und mit Blumen verzierten. In Kalkar haben sich noch einzelne solcher Blumen aus Seide, Draht und Gold erhalten, die aus dieser
Zeit stammen. Sie zeugen von großer Übung und Geschmack. In Xanten sind nur unbedeutende Bruchstücke übrig geblieben. Die
Nachrichten der Baurechnungen beweisen jedenfalls, daß auch im Mittelalter künstliche Blumen auf den Altären Platz fanden.
Man wird also vielleicht besser thun, wenn man nicht alle künstlichen Blumen aus der Kirche verbannt, sondern lieber
und mit Recht gegen die künstlichen naturalistischen und elenden 'gemachten Blumen' unserer Zeit eifert und auf Stilisierung
derselben nach alten Mustern dringt. Es ist übrigens auch nicht abzusehen, warum auf dem Altar echt künstlerisch verfertigt,
Blumensträuße nicht aufgestellt werden sollten, da ja alle gothischen Gesimse, Fialen, Kapitäle, Gefäße und Paramente
mit Blättern und Blumen aus Stein, Holz, Seide und Gold bedeckt und verziert sind.
Als die Frauen und Mädchen von Xanten ihre Blumen fertig hatten und die
schön verzierten Reliquienkästen zur Kirche brachten, wollten auch sie ihr Trinkgeld haben; denn schon damals geschah nichts
ohne solchen Lohn. Der alte Fabrikmeister gab ihnen also ein Quart Wein, daß sie lachend auf seine Gesundheit tranken."
Wie die Klosterschwestern in Bersenbrück die Reliquien für den Hochaltar der Klosterkirche in Bentlage schmückten,
so die Birgittinnen in Marienbaum in späterer Zeit die ihrigen. In verglasten Kästen befinden sich große Reliquientafeln über
den Beichtstühlen, im Anschluß und in Verbindung mit dem Chorgestühl an der Nordwand des Chors aber Arrangements aus
Reliquien, Andachtsbildchen - darunter die Vision der hI. Birgitta -, Blumen und Zierat von höchstem Reiz und feinster
ästhetischer Qualität (Abb. 32). Von besonderer Art die kleinen Modellbüsten, Imitationen von Ursulabüsten, die an der
Stirn und in der Büstennische Reliquien
zeigen. Wie immer wieder und überall, so begegnen auch hier solche aus der Sozietät del hI. Ursula und der Thebäischen Legion
von St. Gereon, denn das Reliquiensammeln überhaupt ist auch auf Quantität ausgerichtet. Vermag ein Heiliger als Fürsprecher
viel, viele Heilige vermögen noch mehr.
Schaut man den Schmuck der Altäre, ihre prachtvollen Reliquiensärge und Reliquienaufsätze mit festlich herausgeputzten
Häuptern und Gebeinen (z. B. Abb.35-41), so wird einem gewiß bewußt, daß von der Gotik zum Barock Klosterkunst und Klosterarbeit
sich ganz kontinuierlich fortsetzt und in derselben frommen Vorstellungswelt und Reliquienfrömmigkeit beruht. Es geschieht
ja dies alles in den Bezirken der Andacht und der Verehrung des Heiligen.
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